Axel Thieme

Axel Thieme – Dance of Ages
Ausstellung im Kunstpunkt Darmstadt: 20.–29. Mai 2016

Die sieben Tage der Woche.
Die sieben Häute der Zwiebel.
Die sieben Weltwunder.
Die sieben Zwerge im Grimm’schen Märchen vom Schneewittchen.
Die sieben mit bloßem Auge wahrnehmbaren Himmelskörper.
Die sieben Öffnungen der Sinnesorgane im Kopf des Menschen.
Die sieben Farben des Regenbogens.
Die sieben Hügel Roms.
Die sieben den Ölmarkt beherrschenden Konzerne, genannt auch die Seven Sisters.
Die sieben Brücken, über die die DDR-Rocker von Karat bis in alle Ewigkeit gehen müssen.
Die sieben letzten Worte Jesu am Kreuz.
Die sieben Jahre, die vergehen, bevor alle Körperzellen sich erneuert haben.

Nicht zu vergessen: die sieben Bilder, mittels derer Axel Thieme uns einen Überblick über 35 Jahre Malerei – nach biblischer Zählung ein halbes Leben – präsentiert. Nun läßt sich, meine sehr verehrten Damen und Herren, 35 ohne Rest durch 7 teilen. Haben wir es also mit einer sauberen Abfolge fünfjähriger Stilphasen zu tun? Ach was. Jeder halbwegs am Darmstädter Kulturgeschehen Interessierte weiß: Rund die Hälfte der fraglichen Zeit war der Urheber der Bilder ringsher künstlerisch kaum bis gar nicht aktiv. Seine Kreativität agierte er stattdessen als Galerist aus, überregional respektiert als Vertreter aktueller Positionen.

Bild Installation
Installation, 1981, Öl/Leinwand, 100 cm × 150 cm

Nach Darmstadt holte er Künstler aus Düsseldorf und Köln, Freiburg und München, aus England und der Schweiz, deren Werke wir im Original sonst wohl nie zu Gesicht gekriegt hätten. Und auf den Messen, wo er seinen festen Platz hatte, pflanzte er mitten in diesen Mix immer wieder Künstler aus der Rhein-Main-Region. Gemessen an den Verhältnissen unserer Stadt, die trotz der Boomzeit, welche sie in galeristischer Hinsicht zwischen ca. 1985 und 2000 genoß, immer etwas leicht Verschlafenes behalten hat, gemessen an diesen Verhältnissen also wirkte Axel alert und informiert und kosmopolitisch, fast schon Jet Set.

Bild Succession
Succession, 2003, Öl/Leinwand, 100 cm × 80 cm

Wer hätte damals gedacht, dass aus dem Galeristen je wieder ein Maler würde? Und dazu ein so origineller … Ich erinnere mich noch gut, wie es war, wenn ich in den letzten Galeriejahren bei ihm Station machte und er sich nicht aus dem Sessel hinterm Schreibtisch erhob, sondern aus dem Nebenraum geeilt kam, sich womöglich gerade noch die Hände an einem Lappen sauberwischte. Einem Lappen mit Farbspuren. Dazu die halb verschämte, halb verschmitzte Auskunft, er habe gerade … gemalt. Oha! Es war die Anfangsphase der Stachelbällchen, wo Axel seinen ganzen Ehrgeiz daransetzte, den Bällchen selber eine pieksige Haptik einzuflößen und ihrer Lage im Bild, mal durch Häufung, mal durch Schatten, nicht zuletzt durch den Wechsel von Schärfe und Unschärfe, eine suggestive Räumlichkeit.

Bild Levitation
Levitation, 2001/2004, Öl/Leinwand, 50 cm × 40 cm

Ja, er war grundsätzlich nicht unglücklich mit den Ergebnissen, von denen er offenhielt, ob es sich da nun um unterm Mikroskop der Phantasie vergrößerte Pflanzensporen oder Krankheitskeime oder was sonst immer handelte. Aber er konnte absolut gnadenlos sein, wenn er im Einzelfall nicht 100ig zufrieden war: »Ich war der Übermaler, der Wegwerfer, der Verschenker«, gesteht er. Und natürlich war er unsicher bezüglich des eigenen beruflichen Status. Weswegen er die betreffenden Bilder rückseitig mit einem anglophilen Pseudonym signierte: Timothy O’Reilly. Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass es das Malen war, was Axel während der Zeit nach dem Schließen seiner Galerie, als er lange aus der Darmstädter Öffentlichkeit verschwunden blieb, seelisch über Wasser gehalten hat. Naja, ich denke, auch die Brigitte hatte da ordentlich ihren Anteil. Aber da ich die Sache beurteile als Analytiker von Kunst und nicht von Beziehungen, beschränke ich mich auf das, was die Bilder zeigen.

Bild Seestück
Seestück, 2005, Öl/Leinwand, 45 cm × 60 cm

Habe ich vorhin über Wasser gesagt? Eigentlich verhält es sich genau umgekehrt: als Maler ist Axel Thieme ins Wasser gegangen. Mit der Bällchen-Serie, deren Kompositionen immer dichter und komplexer wurden, überschnitt sich bereits die Serie der Brandungsbilder. Diesmal war es Axels Ehrgeiz, die Wellen im Kontrast von kurvigem Wellenkamm, sich überschlagenden Wassermassen und weiß schäumender Gischt so rüberzubringen, dass der Betrachter das Rauschen im Ohr hört und das Salz auf der Zunge schmeckt. Zählt man die jüngeren Werkphasen nach darauf verwendeten Jahren, so entpuppen sich die Brandungsbilder allerdings nur als ein schmales Tor, als Tor, das tiefer und tiefer ins Meer führt. Sind es doch mittlerweile die in ganz unterschiedlichen Leinwandformaten, vom Täfelchen bis zum Wandfüller, daherkommenden Variationen der sog. »Submarinen Gärten«, an die man automatisch denkt, wenn von Axel Thiemes Malerei gesprochen wird. Für jeden, der diese Bilder neu kennenlernt, ein reines visuelles Ergötzen dank des Farben- und Gestaltenreichtums der darauf ausgebreiteten, offenbar untermeerischen Fauna und Flora, die an Koralle, Schwamm, Seeanemone oder Röhrenwurm erinnern mag, aber in Wirklichkeit vom Künstler frei erfunden ist, hergeleitet aus einem begrenzten Arsenal Strukturen. Malerei, die von Malerei kommt.

Bild Liquidambar Styraciflua
Liquidambar Styraciflua, 2008, Öl/Leinwand, 94 cm × 120 cm

Wer genauer ins filigrane Detail stöbert, wird entdecken, dass es letztlich die Stachelbällchen sind, die da Pate gestanden haben. Insgesamt aber drücken die Bilder zwei Dinge aus. Zum einen überquellendes Leben. Kein Wunder: Sogar die Wissenschaft glaubt, das Leben käme aus dem Meer. Zum anderen, bei allem tentakelnden Gewimmel: Ruhe, Entrücktheit, Unberührtsein von aller an Land sich vollziehenden Hektik. Ich behaupte: Die »Submarinen Gärten« sind für ihren Urheber nach wie vor ein Raum der Rekonvaleszenz. Ein Raum, wo ihm die lärmige, nervige Welt gerade mal den Buckel runterrutschen kann.

Bild aus der Serie Submarine Gärten
aus der Serie Submarine Gärten, 2015, Öl/Leinwand, 55 cm × 70 cm

Ich habe den Bezug zwischen den quasi-untermeerischen Szenen und den älteren Stachelbällchen erwähnt. Das jedoch wäre in dem »Dance of Ages«, als den Axel das heutige Gipfeltreffen von sieben exemplarischen Werken ankündigt, bloß einer der kleineren Tanzschritte. Viel erstaunlicher, weil viel weiter ausholend finde ich den Bezug zwischen dem großen gelb-grünen Stachelbällchen-Bild von 2007 und dem frühesten Beispiel der heutigen Auswahl. 1981 hat Axel Thieme das geschaffen, was er als »für mich das wichtigste Bild überhaupt« bezeichnet. Was zunächst vielleicht verwundert. Verfügt unser Maler doch mit den »Submarinen Gärten« über ein attraktives, scheinbar unerschöpfliches, zudem sofort als das seine wiedererkennbares Motivvokabular. Und das sozusagen in Technicolor. Warum liegt ihm dann eine Leinwand so sehr am Herzen, die sich auf Titanweiß und Payne’s Grau beschränkt, um daraus ein dichtgepacktes Mosaik von Dreiecken und Rauten zu hämmern? Geometrie, doch mit Op-Art-Flimmereffekt. Ah, jetzt kapier ich’s – je weiter die Distanz, die man zur Leinwand einnimmt, desto leichter kann man, mehrmals diagonal gezogen, den Bildtitel »Installation« entziffern.

Das setzt der akribischen Pinselarbeit ein konzeptuelles Krönchen auf. Für Axel damals ein Werk, in dem ein soziopolitischer Kommentar anklingt darauf, mit welchen Wohn- und Verkehrsverhältnissen der zeitgenössische Großstadtmensch sich einrichtet. Für mich heute, im Überblick all dessen, was mit einigem Abstand gefolgt ist, ein prophetisches Werk. Schlummert in ihm doch schon die Erkenntnis, dass die Stärke dieses Malers in Detailstrukturen liegt und der Art und Weise, sie in eine stabile Komposition zu bringen. Beim großen gelb-grünen Stachelbällchen-Bild ist das eine subtil serielle Ordnung, ein unaufdringliches Gitter mit raffinierter Räumlichkeit. Bei den »Submarinen Gärten« dagegen mit ihrem Wildwuchs von Formen funktioniert die Komposition mittels der unregelmäßigen Verteilung von visuellen Brennpunkten über die Fläche. Von mir aus, Axel, darfst Du Dich gerne auch die nächsten 35 Jahre zwischen Festlandschelf, Korallenriffs und Tiefseegräben tummeln: Ich kriege die Ausbeute Deiner Tauchzüge einfach nicht über.

© Dr. Roland Held, Eröffnungsrede zur Ausstellung, 20. Mai 2016

Bild aus der Serie Submarine Gärten
aus der Serie Submarine Gärten, 2014/2015, Öl/Leinwand, 200 cm × 180 cm